rätoromanische Sprache.

rätoromanische Sprache.
rätoromanische Sprache.
 
Nach dem lateinischen Provinznamen Raetia Prima für das heutige Graubünden war »Rätisch« der gelehrte Name für das Bündnerromanische, das volkstümlich »Churer Welsch« (daher »Kauderwelsch« für »unverständliche Sprache«) genannt wurde. Als im 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Feststellung von Ähnlichkeiten zwischen dem Bündnerromanischen, dem Dolomitenladinischen (Ladinisch) und dem Friaulischen dazu führte, dass man diese drei Gebiete als Reste einer älteren Sprachgemeinschaft ansah, wurde der Terminus »Rätoromanisch« als übergreifender Name für diese Sprachen gewählt. Dieser Bezeichnung verhalf der österreichische Romanist T. Gartner zum Durchbruch, dem die erste systematische Grammatik (»Raetoromanische Grammatik«, 1883) und wissenschaftliche Beschreibung (»Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur«, 1910) zu verdanken sind. Gartner versuchte, den Namen »Rätoromanisch« durch den Hinweis auf ein gemeinsames vorlateinisches Substrat der drei Gruppen, eben das antike Rätische, zu rechtfertigen. Mit dieser Auffassung trat er in teilweisen Gegensatz zu dem italienischen Sprachwissenschaftler G. I. Ascoli, der schon ein Jahrzehnt zuvor die Zusammenfassung der drei Gruppen zu einer Sprache vorgeschlagen und nach einer lokal vorhandenen Selbstbezeichnung der Sprecher den Namen »Ladino«, der noch heute in Italien üblich ist, geprägt hatte (»Saggi ladini«, 2 Bände, 1873-83). Ascoli hob jedoch hervor, dass weder Friaul noch die Dolomiten zur Provinz Raetia gehört hatten und dass es dort also auch kein rätisches Substrat geben könne. Im Grundsatz waren Ascoli und Gartner jedoch derselben Ansicht: Für sie war das Rätoromanische eine eigenständige romanische Sprache, die vom Italienischen klar zu trennen ist.
 
Das Postulat einer rätoromanischen Sprache war bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg unumstritten; 1910 äußerte Carlo Battisti (* 1882, ✝ 1977) erste Zweifel, und Carlo Salvioni (* 1858, ✝ 1920) formulierte 1917 die Theorie, dass es keine signifikanten Ost-West-Zusammengehörigkeiten gäbe, sondern dass man Nord-Süd-Verbindungen zwischen dem Bündnerromanischen und dem Lombardischen, zwischen dem Dolomitenladinischen und dem Alpinvenezianischen sowie zwischen dem Friaulischen und dem Venezianischen habe. Der entscheidende Punkt dieser Auffassung ist darin zu sehen, dass sie nicht nur die Eigensprachlichkeit des Rätoromanischen infrage stellt, sondern dazu tendiert, seine Konstituenten zu italienischen Dialekten zu machen. Die Auseinandersetzung um die Frage, ob die Ascoli-Gartner-These oder die Battisti-Salvioni-Auffassung zutreffend sei (»questione ladina«), bekam einen zunehmend politisch-nationalen Charakter, wobei die ältere Ansicht eher in den deutschsprachigen Ländern und die jüngere Ansicht hauptsächlich in Italien vorherrschte. Die Verquickung mit der Südtirolfrage und mit Ansprüchen des faschistischen Italien auf die Südschweiz machten eine rein wissenschaftliche Diskussion lange Zeit unmöglich.
 
Nicht wenige Romanisten neigen heute dazu, den Terminus »Rätoromanisch« zu vermeiden beziehungsweise ihn im landläufigen Schweizer Sinne, also als Synonym für Bündnerromanisch, zu verwenden. Dabei ist unumstritten, dass das Bündnerromanische eine eigene romanische Sprache ist, die auch im Mittelalter bereits klar vom Lombardischen zu unterscheiden war. Auch das Friaulische wird weitgehend als eigenständiges Idiom anerkannt; es ist jedenfalls kein archaischer Dialekt des Venezianischen. Das Dolomitenladinische wird oft in engerem Zusammenhang mit den südlich anschließenden oberitalienischen Mundarten gesehen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Sprache der Poebene bis weit ins Mittelalter hinein Charakteristika aufwies, die sich heute nur noch in den archaisch gebliebenen nördlichen Randzonen zeigen. In der heutigen Romanistik ergeben sich somit im Wesentlichen drei Positionen: 1) Beibehaltung von »Rätoromanisch« als Terminus für eine gemeinsame, historisch gewachsene romanische Sprache; 2) Verzicht auf den Gebrauch des Ausdrucks »Rätoromanisch« zugunsten der drei Varietäten Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch, wobei diese jedoch in mehr oder weniger engem Kontakt und in sprachlicher Affinität mit den angrenzenden Sprachräumen besonders Oberitaliens gesehen werden; 3) Anerkennung von Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch als autonome sprachliche Einheiten, die zwar historisch und wissenschaftsgeschichtlich miteinander verwandt sind, aus primär soziolinguistischer Perspektive aber als eigenständige romanische Sprachen zu interpretieren sind.
 
 
M. Iliescu u. H. Siller-Runggaldier: Rätoroman. Bibliogr. (Innsbruck 1985);
 
Raetia antiqua et moderna. W. Theodor Elwert zum 80. Geburtstag, hg. v. G. Holtus u. a. (1986);
 
»Rätoromanisch« heute, hg. v. G. Holtus: u. a. (1987);
 
Lex. der Romanist. Linguistik, hg. v. G. Holtus: u. a., Bd. 3 (1989);
 G. B. Pellegrini: La genesi del retoromanzo (o ladino) (Tübingen 1991);
 
Hwb. des Rätoromanischen, Beitrr. v. R. Bernardi u. a., 3 Bde. (Zürich 1994).

Universal-Lexikon. 2012.

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